Gibt es Grund zum Aufatmen oder bleibt noch viel Luft nach oben?
Als es Anfang Juni hieß, Chöre dürfen in Rheinland-Pfalz wieder im Außenbereich proben, war die Freude riesengroß. Es wurde nach geeigneten Außenflächen gesucht, es wurden Hygienekonzepte erstellt, dazu vorab Sitzungen über Zoom einberufen, um die Choraktiven zu befragen, es wurde Überzeugungsarbeit geleistet, um auch die Zweifler mit ins Boot zu nehmen, damit sie dieses Experiment der Außenproben mittragen.
Und wie sehr haben wir die ersten Proben genossen, wenn auch mit einem Abstand von 3 Metern zwischen den Choraktiven. Neue Stücke, die wir über Zoom-Registerpoben eingeübt hatten, konnten nun „zusammengesetzt“ werden, d.h. direkt in ihrer Mehrstimmigkeit geprobt werden. Eine ideale Probensituation im Laienchorbereich, wo doch stets zunächst viele Proben für das Erlernen der Noten herhalten müssen. Überhaupt mal wieder Mehrstimmigkeit live zu erfahren, war ein sehr emotionaler Moment, sowohl für mich als ChorleiterIin als auch für meine Chorsängerinnen und Chorsänger.
Nun wird diese Probenpraxis seit fast 2 Monaten angewendet und die anfängliche Begeisterung ist teilweise Ernüchterung gewichen. Dachte man zunächst, Außenproben seien im Sommer gut möglich, so wurde man in der Praxis eines Besseren belehrt. Gerade diesen Sommer haben wir viel Wind. Dieser Wind trägt die Stimmen der einzelnen Sänger in alle Richtungen, nur nicht gebündelt zum/zur ChorleiterIn. Der schöne Chorgesang wird quasi in alle Winde verweht…. Hören ist eine der Hauptaufgaben des Chorleiters, um am Klang des Ensembles zu arbeiten. Wie will der/die ChorleiterIn gut arbeiten, wenn er/sie nicht gut hören kann?
ChorleiterInnen müssen in der Chorprobe stets „Multi-Tasking“ sein. Sie dirigieren, spielen unter Umständen mit einer Hand Klavier, treten mit dem Fuß den Takt mit, beobachten ihre Choraktiven und hören aufmerksam zu. All das gleichzeitig. Zusätzlich noch die Noten festzuhalten, weil gerade die nächste Windböe kommt, überschreitet nun ihre Fähigkeiten, da fehlen einfach ein paar zusätzliche Hände. Und da haben wir noch nicht über zu kühle Sommertage oder Regen gesprochen….
Für einen professionellen oder zumindest semiprofessionellen Chor ist ein Abstand von 3 Metern während der Probe kein großes Problem. Dessen ChorsängerInnen sind stimmsicher. Bei Laien sieht die Situation anders aus. Während einige die Herausforderung gut meistern und sogar dazulernen, sind andere überfordert. Ihnen fehlen die gewohnten Stimmnachbarn, die sie stützen und mittragen.
Dazu kommt noch, dass je nach Chor eine bedeutende Anzahl von ChorsängerInnen derzeit nicht einmal an den Proben im Außenbereich teilnimmt. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Für einige erscheint die derzeitige Probensituation schlicht unattraktiv. Sie möchten warten, bis wieder „der normale Probenalltag“ einkehrt. Wann wird das sein???
Andere gehören zur COVID-19-Risikogruppen oder haben Familienangehörige, für die aus diesem Grund Rücksicht geboten ist und bleiben deshalb, verständlicherweise, den Proben fern. Ein paar Einzelne haben sich bereits komplett von ihren Chören verabschiedet. Man sieht aufgrund des Alters nun den Zeitpunkt gekommen, aufzuhören, man hat während der C(h)oronapause festgestellt, dass wertvolle Zeit mit der Familie nun erst einmal vorgehen soll, man hat zu große Bedenken, dass man „nach Corona“ nicht mehr mitkommt, vor allem mit fremdsprachlichen Texten. Oder man erscheint einfach nicht ohne die Angabe von Gründen…, auch das gibt es.
Bedenkt man, wie sehr Chöre vor Corona um einzelne neue Choraktive gekämpft haben und schaut sich nun an, wie schnell man nun Einzelne durch Corona verliert, dann frustriert das. Wie schön andererseits, dass auch in Coronazeiten neue SängerInnen zu Chören dazustoßen. Über 2 neue junge Sängerinnen in zwei meiner Chöre, die nächste Woche zum ersten Mal kommen möchten, freue ich mich in der Coronazeit ganz besonders!
Es gibt immer eine Kehrseite der Medaille, wir müssen sie nur für uns entdecken. Wir wissen nicht, wie sich die Coronakrise entwickeln wird, wir wissen nicht, wie lange sie andauern wird, wir wissen nicht, ob überhaupt ein Impfstoff gefunden wird, wir wissen daher nicht einmal, ob es je wieder eine Welt ohne Corona geben wird, oder ob sich die Welt anpassen und mit Corona leben wird.
Wir werden unsere Choraktivitäten nach und nach der Realität anpassen müssen, wir brauchen neue Nischen, wir brauchen Optimismus, wir brauchen neue Ziele und Zusammenhalt – und genau daran müssen wir jetzt arbeiten!
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